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Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt am Main

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Artikel dieser Ausgabe

Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt

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Und dafür fahre ich 800 Kilometer...
Mit dem Rad
vom Taunus zur Dahme

12. Juli 2008:
Start ist morgens in Bad Homburg v.d. Höhe, Ortsteil Kirdorf. Ich fahre alleine und folge meiner Standardstrecke entlang dem Kirdorfer Bach, durch den Kurpark, am Eschbach bis zur Nidda. Dann kommt der erste kleine Anstieg zum Heiligenstock, weiter geht es über den Frankfurter Lohrberg und auf der uralten „Hohen Straße“ (Antsanvia) bis Marköbel, links die Nidder, rechts der Main. Schon in der Steinzeit zogen hier Menschen durch. Es folgt der Limes-Radweg bis Langenselbold im Kinzigtal, dann der Spätlesereiter-Weg bis Gelnhausen, an Barbarossas Pfalz vorbei in das Orbtal bis Bad Orb. Hier gibt es eine Dampfbahn mit 60 cm Spurweite, Bärlauchbratwürste und auf der Straße einen Mann mit strähnigem Haar, Sandalen und in einem hellblauen, durchsichtigen Kleid. Seltsam!

13. Juli:
Frühstück in einer alten Pension mit einer uralten Dame. Dann geht es zurück ins Kinzigtal auf den Spätlesereiter-Weg (auch hessischer R3). In Schlüchtern treffe ich auf „die Straße“ („des Reiches Straße“), die alte Handelsstraße Frankfurt-Leipzig. Die Stadt Steinau a. d. Straße führt sie im Namen. An ihrem unteren Stadttor steht in altertümlichem Deutsch: Der Reisende braucht keinen Zoll zu zahlen, so er sein Geld in der Stadt verprasst. Blendende Idee! Ich gedenke der Märchengebrüder Grimm und nähere mich dem ersten Pass, dem sogenannten „Landrücken“, Wasserscheide zwischen Rhein und Weser. Oben am „Distelrasen“ beginnt es leicht zu regnen. Dennoch: Mit einem Gläschen Wein wird der Sieg über die Anhöhe begossen. Das war verfrüht, denn es kamen noch ein paar brutale Hügel, bevor ich den Fulda-Radweg R1 erreiche. Pause im Biergarten eines Brauhauses in Fulda. Es geht weiter auf dem R1 die Fulda abwärts. Mir begegnet ein Tandem mit einem Liegerad vorne: was es nicht alles gibt! Ziel ist heute Niederaula an der Mündung der Aula in die Fulda.

14. Juli:
Der Radweg heißt jetzt R1/R7 bis Bad Hersfeld. Dann geht es auf dem R7 anfangs steil hinauf von der Fulda Richtung Werra. Angenehmer wird es auf einer alten Bahntrasse bis Schenklengsfeld. Ich sehe am Wegesrand ein Tandem mit zwei entgegengesetzt verschweißten Vorderrädern. Es ist verständlicherweise von seinen Fahrern verlassen. Die Bäckerin in Schenklengsfeld äußert höfliche Zweifel, als ich ihr Eisenach als mein Tagesziel nenne. Ich fahre auf dem Werra-Weg am Philippstaler Kali & Salz vorbei bis Vacha in Thüringen. Hier ist die uralte Werrabrücke zu bewundern, über die „des Reiches Straße“ läuft. Am rechten Werra-Ufer der Grenzstein „KP/HSW“ (Königreich Preußen/ Herzogtum Sachsen-Weimar) und das Haus, durch dessen Mitte bis 1990 die innerdeutsche Grenze lief. Ich will auf direktem Weg nach Berka an der Werra und muss über einen Bergrücken. In Oberzella traue ich einem handgeschnitzten und -gemalten Schild „Vitzeroda“ nicht recht und frage ein Bauernpaar: Wo bitte geht’s nach Berka? Beide sehen mich starr an; er sagt: Das ist aber weit! (15 km sind es laut Karte, naja....). Mir wurde bald klar, dass gemeint war: Das ist aber steil! Kurz vor Vitzeroda droht mein Rad nach hinten zu kippen. Die Gegend hat sicher noch nie ein Fahrrad gesehen! Ein Autofahrer hält oben neben mir und fragt, ob es mir gut geht und wohin ich will. Er hat wohl einen lallenden Trottel erwartet und ist beruhigt, als ich ihm ein sinnvolles Ziel nennen kann: runter zur Werra nach Berka. Ich erreiche wieder den Werra-Weg und fahre über Gerstungen nach Hörschel. Hier wird deutlich auf den Beginn des Rennsteigs hingewiesen. Ich bleibe jedoch lieber im Tal der Hörsel und erreiche Eisenach. Das Touristikbüro am Markt vermittelt mir eine Unterkunft direkt an „des Reiches Straße“ für genau 26,85 ?, ohne Fernseher, was ich sehr begrüße. Ich laufe durch Eisenach und sitze abends im Biergarten der Herberge. Hier erfahre ich die halbe Lebensgeschichte des Wirts und den genauen Hergang der Schlacht bei Jena und Auerstedt.

15. Juli:
Heute muss ich aus dem Bereich der Weser über eine Wasserscheide an die Unstrut in den Bereich der Elbe fahren. Kein Problem, denke ich, was ist das schon gegen den Landrücken und Vitzeroda! Ich suche und finde endlich das Tal der Nesse, die in Eisenach in die Hörsel mündet. In Wenigenlupnitz mache ich Halt in einem kleinen Park. Plötzlich ein kleiner Junge aus dem Baum über mir: Was machst Du da? Meine Gegenfrage: Und was machst Du da oben? Er: Das weiß ich nicht. Ich: Ich weiß es auch nicht. Fazit: Wir tun beide etwas, wissen aber nicht, was.... Vor Ebenheim wird eine neue Autobahn gebaut; ich muss einen Riesenumweg mit unangenehmen Steigungen und Gegenwind bis Haina fahren. Hinzu kommen die von mir so getauften „Mitteldeutschen Mördermücken“ (Bremsen): Sie landen bei langsamer, aber auch bei schneller Fahrt (daher wohl ihr Name). Das schaffen selbst gut trainierte normale Mücken nicht. Dann packen sie ihre Mörderwerkzeuge aus, mit denen sie selbst Kühe anzapfen können. Da ihr Stich schmerzhaft ist, überleben sie ihn meist nicht. In Wangenheim erblicke ich ein Gespann mit zwei Pferden, dahinter zwei Anhänger! Über Burg- und Gräfentonna geht es endlich hinunter auf den Unstrut-Radweg. Nach einigen Umleitungen erreiche ich Sömmerda. Es gibt keine freien Zimmer; ich muss weiter nach Orlishausen zu einem Bauernhof. Hier fühle ich mich wie ein Familienmitglied für einen Tag. Ich lerne kennen (in dieser Reihenfolge): den Hund, die Bäuerin, den Bauern, einen tschechischen Dolmetscher, den Tierarzt, einen Gast aus Bad Lobenstein, die Nachbarin und deren Tochter. Der Tierarzt erklärt einem verzweifelten Kunden am Mobiltelefon, womit man neugeborene Ziegen-Fünflinge(!) füttert. Wir essen und trinken Bier und Sekt. Der Hund freut sich über Gäste. Die Bäuerin wäscht meine Mütze und die Radhandschuhe. Ich muss ihr ausreden, meine gesamte Wäsche zu waschen.

16. Juli:
Es ist gedeckt, ich frühstücke um halb acht zunächst allein; jedoch: acht Uhr war vereinbart; also frühstücke ich ein zweites Mal mit den beiden Gastgebern. Ich bekomme auf den Weg mit: Brötchen, drei Eier, eine Gurke, einen Kohlrabi, ein Glas mit Salz und ein Gemüsemesser. Anschließend handelt die Bäuerin den Preis erfolgreich – nach unten! Die Frau hat eben ein großes Herz. So spät (gegen 9 Uhr) bin ich noch nie gestartet. Ich bin nun abseits meines Weges, fahre über Kölleda und stoße zwischen Schrecke, Schmücke und Finne (die heißen wirklich so!) zur Unstrut nach Laucha. Über Freyburg geht es an der Unstrut zur Saale-Fähre in Groß-Jena-Blütengrund. Kleiner Frühschoppen mit Unstrut-Wein. Der Fährmann fährt nur für mich, will aber partout kein Trinkgeld nehmen. Es geht weiter zum Marktplatz in Naumburg/Saale. Das waren heute nur 60 Kilometer, aber Naumburg kann man nicht einfach ignorieren. Schnell habe ich ein preiswertes Hotel in Stadtmitte. Es gibt eine historische Straßenbahn, die von Fremden bewundert und von allen Einheimischen gegrüßt wird. Es regnet. Ich kaufe Wachsöl für meine Kette.

17. Juli:
Es regnet nicht mehr. Am Saale-Radweg folgen Bad Dürrenberg, Leuna und Merseburg. Dann geht es durch endlose öde Vorstadtsiedlungen nach Halle hinein. In der schönen Innenstadt esse ich ein Ei und die Gurke mit Salz aus Orlishausen, mehr brauche ich nicht. Ich will zum Europa-Radfernweg R1, der durch Köthen geht, und in Richtung St. Petersburg (Russland) weiterfahren. Vorbei am markanten Petersberg komme ich nachmittags nach Köthen. Der Komponist Johann Sebastian Bach war auch schon da, genau wie in Eisenach. Ich übernachte in einer Brauerei. Das Dunkle ist erheblich besser als das Helle.

18. Juli:
Ich bin der einzige Gast. Das Frühstück ist eher mäßig. Der R1 ist vorbildlich in blauer Farbe markiert, nur weiß ich nicht, wo es nach St. Petersburg (Russland) und wo nach Boulogne sur Mer (Frankreich) geht. Ich wähle blind und liege sofort richtig. Zwischen Köthen und Dessau liegt Reppichau. Der Leser wird staunen, aber dieser Ort ist für mich der Höhepunkt der Tour. Hier wurde Eike von Repgau geboren, der Verfasser des mittelalterlichen niederdeutschen Gesetzbuches „Sachsenspiegel“. Das gesamte Ortszentrum ist in den Dienst einer äußerst sehenswerten Dokumentation über den Sachsenspiegel gestellt, mit Texten, Figuren, Bildern, Installationen etc. Mindestens drei Sterne, Chapeau! Es geht weiter auf dem R1 durch Dessau ins UNESCO-Welterbe Gartenreich Wörlitz – nochmals Chapeau! Dann mittags Lutherstadt Wittenberg. Schlosskirche; Inschrift rund um deren Turm: Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen (gesungen: Wa-ha-ha-ffen). Ich lasse die Religionen ihre diversen Götter gegeneinander in Stellung bringen und esse Kohlrabi mit Salz und Ei aus Orlishausen. Nun muss ich auf dem R1 von der Elbe zur Havel über den Fläming. Es folgen 25 mühsame Kilometer ohne eine einzige Kneipe, lange Steigungen auf einsamen, sandigen Wegen. Dann geht es wieder abwärts. Es kommt die Burg Rabenstein und plötzlich, in Raben, doch ein Gasthof – gerettet! Ich miete einen Holzbungalow mit Frühstück für 25 ?. Der R1 ist jetzt grün beschildert, ich bin in Brandenburg. Dankbar für die Rettung, spende ich für die Feldsteinkirche und füttere Kaninchen mit Lindenblättern.

19. Juli:
Mein Tacho geht 5 km lang nicht. Ich verliere den R1 und fahre 6 km im Sand in falscher Richtung. Wieder auf dem R1, komme ich nach Bad Belzig. Ich verliere in Schwanebeck den R1 erneut und komme in schneller Fahrt nach Golzow. Dann auf einsamer Landstraße Richtung Osten nach Kloster Lehnin. Auf einem sandigen preußischen Postweg (Potsdamer Straße) geht es weiter geradeaus Richtung Potsdam. Es regnet. Gleich werde ich die Nachhut von Friedrich dem Großen einholen, denke ich bei mir und kämpfe mich voran. Die Gegend ist so menschenleer, dass kurzes Verharren oder langsames Fahren alle Mücken im Umkreis herbeilockt, mangels sonstiger Opfer. Jetzt ist mir klar, warum die Preußen so schnell marschieren konnten! Ich folge dem R1 und bin fast im schönen Werder/Havel – dahin will ich aber nicht, sondern nach Caputh. Kehre also um, über die Havel-Fähre (50 Cent), vorbei am Einstein-Haus zum Ziel: zur „Braumanufaktur“ am Templiner See. Es gibt Bio-Bier. Ich trinke im Biergarten zwei Helle und sitze am Tisch mit zwei Radfahrern, einem Hamburger und einem Bremer (ich bin gebürtiger Kieler). Der Hamburger ist stolz auf seinen über 50 Jahre alten Radrahmen, an den er sich „moderne“ Komponenten wie Felgenbremse und Rücktritt hat montieren lassen. Er sucht jemanden, der mit ihm sechs Wochen durch Deutschland fährt. Ich sehe sein Rad und lehne ab. Ich kaufe vier Halbliterflaschen Bio-Bier und Bio-Biersenf. Dann nach Potsdam auf die Glienicker Brücke (Berliner Stadtgrenze), ehemals berühmt für den Austausch von Spionen. Ich tausche mich selber aus und fahre zurück zum Potsdamer Bahnhof. Einstündige Reise mit dem Regionalexpress zum Flughafen Schönefeld. Ich suche den kürzesten Weg von dort nach Eichwalde/Dahme, lande leider wie immer in Berlin-Grünau und muss das kilometerlange „Adlergestell“ (heißt wirklich so) entlang fahren. Zum Eichwalder Bahnhof in den „Bierpub Schwarzer Adler“. Der halbe Liter Berliner Bier kostet 2,10 ?. Es gibt Oldie-Musik bis über die Straße.
Dafür bin ich rund 800 km gefahren!!

Günther Gräning

17. 12. 2008 I ADFC Frankfurt am Main e. V. |