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Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt am Main

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Artikel dieser Ausgabe

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Wer ist eigentlich der Flying Scotsman?

Nein, dieser Beitrag wird nicht von der Dampflokomotive aus den 1920er Jahren handeln. Vielmehr widmen wir uns dem schottischen Radrennfahrer Graeme Obree.

Ein aus Waschmaschinenteilen selbstgebautes Rennrad, zwei Weltrekorde

Nach dem Ende seiner sportlichen Karriere veröffentlichte Obree mehrere Bücher
Nach dem Ende seiner sportlichen Karriere veröffentlichte Obree mehrere Bücher
Covadonga Verlag

für das Stundenfahren, ein vor dem Kampfrichter abgesägter Sattel, zwei neu erfundene Sitzpositionen, drei überlebte Selbstmordversuche – das Leben von Graeme Obree bietet Stoff für Filme. Und tatsächlich wurde es 2006 in dem Drama „Flying Scotsman – Allein zum Ziel“ auf die große Leinwand gebracht. Doch der Reihe nach.

Am 16. Juli 1993 betrat der bis dahin völlig unbekannte 27-jährige Schotte die Weltbühne des Radsports, als er im Norwegischen Hamar einen Versuch antrat, den bestehenden Stundenrekord zu brechen. Zwei Besonderheiten fielen dabei sofort ins Auge: sein unter Verwendung von Waschmaschinenteilen selbstgebautes Fahrrad „Old Faithful“ und die „Tuck“ genannte Sitzposition, bei der die Brust direkt über dem kurzen, geraden Lenker liegt. So etwas hatte die Welt noch nicht gesehen… und war deshalb auch nicht verwundert, als Obree beim ersten Versuch mehr als einen halben Kilometer hinter dem Weltrekord zurückblieb. Doch da er das Velodrom für 24 Stunden gebucht hatte, startete er am nächsten Tag einen zweiten Anlauf und knackte mit 51,596 km den bisherigen Rekord. Sein Trick: Vor dem Schlafengehen hatte er mehrere Gläser Wasser getrunken, um so regelmäßig aufzuwachen und sich zu dehnen.

Der Flying Scotsman polarisierte und geriet immer wieder mit dem Weltradsport-Verband UCI aneinander. So wurde seine aerodynamische Sitzposition „Tuck“ 1994 verboten, was er erst eine Stunde vor einem wichtigen Rennen erfuhr. Zudem wurde die zu weit vorstehende Position seines Sattels beanstandet, woraufhin er diesen mit einer Säge kürzte und ihn letztlich durch den Sattel eines Kinderfahrrads ersetzte. Das half jedoch alles nichts und ihm wurde die Teilnahme am Rennen verweigert. Ein Jahr später präsentierte er dann die „Superman“-Position, bei der die Arme für geringeren Luftwiderstand weit nach vorne gestreckt auf einem verlängerten Lenker liegen. Als die UCI 1996 diese Haltung ebenfalls verbot, sahen viele darin einen gezielten Affront gegen Obree und seinen unkonventionellen Erfindergeist. Dass der Rebell auf zwei Rädern immer noch gerne tüftelt und dem Luftwiderstand ein Schnippchen schlagen will, bewies er 2013, als er mit einem selbstgebauten Bauchlieger den Rekord für ein Human-Powered Vehicle brechen wollte. Letzteres gelang ihm zwar nicht, aber mit über 91 km/h war er nicht gerade langsam unterwegs. Fünf Jahre später testete er im Windkanal des Mercedes Benz Formel 1-Teams auf einer Replika von „Old Faithful“ die Aerodynamik der „Tuck“ Haltung. Dabei wurde herausgefunden, dass sie herkömmlichen Sitzpositionen auf dem Rad überlegen ist.

links: Graeme Obree rast in seiner speziellen Sitzhaltung über schottischen Asphalt
Thomas Nugent über WikiCommons
rechts: Vitrine über Graeme Obree und seine sportlichen Leistungen im Riverside Museum in Glasgow
Oxyman über WikiCommons

Graeme Obrees glänzenden sportlichen Leistungen stand ein düsteres Innenleben gegenüber. Seit seiner Kindheit litt er unter Depressionen und einer bipolaren Störung. Insgesamt drei Mal versuchte er sich das Leben zu nehmen. Dazu beigetragen hat sicher auch die Tatsache, dass er sich erst 2011 als schwul outen konnte. Heute wirkt er wesentlich aufgeräumter und ist fernab der Radsportwelt als Speaker unterwegs, um über Mentale Gesundheit und die Kraft der Achtsamkeit zu informieren.

Hannah Kessler