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Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt am Main

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Artikel dieser Ausgabe

Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt

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Das Fahrrad ist das einzige Mechanische im Leben eines normalen Menschen
Ein Gespräch mit der Fahrradhändlerin Janice Tyrer

Janice Tyrer, Geschäftsführerin im Fahrradladen Radschlag, unermüdliche Streiterin für mehr Qualität im Fahrradbau und seit vielen Jahren im Einsatz für eine andere Verkehrspolitik, hat gerade ihren 60sten Geburtstag hinter sich gebracht. Wir haben das zum Anlass genommen, uns mit Janice zu einem Gespräch im Günthersburgpark zu treffen.

Frankfurt aktuell: Herzlichen Glückwunsch nachträglich zum Geburtstag. Aus der Tagespresse war ja nicht ganz klar zu entnehmen, ob nun der Laden oder die Geschäftsführerin 60 geworden ist.

Janice Tyrer : 60 bin ich geworden. 60 ist auch unser Partner, die Fahrradmanufaktur Patria, geworden. Und passend dazu feiert auch Bernd Rohloff in diesem Jahr seinen 60sten. Den Laden haben wir vor 28 Jahren geöffnet, zuerst in der Glauburgstraße, später dann hier in der Hallgartenstraße.

Es hat sich viel getan in all den Jahren. Das Fahrrad ist technisch gereift.
Das ist richtig. Aber es geht noch weiter. Das Fahrrad ist inzwischen das einzige Mechanische im Leben des normalen Menschen. Die Welt hat sich verändert, die „Generation Download“ ist mit anderen technischen Geräten aufgewachsen. Je jünger die Menschen sind, desto weniger finden Sie Zugang zu der Fahrrradtechnik. Das ist nicht als Kritik gemeint. Bei jungen Männern mag noch hin und wieder ein Interesse an technischen Basteleien zu finden sein, an moderner, auch an mechanisch betriebener Technik, bei Frauen jedoch ist dies überhaupt nicht zu erkennen.

Die Anzahl der Alltagsfahrerinnen mit modernen Rädern hat doch stark zugenommen.
Bei den jüngeren ist das anders. Ich erwarte inzwischen, dass eine Frau unter 25 ein Fahrrad fährt, dass deutlich älter ist als sie selbst. Diese Räder entsprechen schon lange nicht mehr dem Stand der Technik, sind oft mit einfachen Bremsen und schlechter Beleuchtung ausgestattet und lassen sich kaum lohnend reparieren.
Da ist natürlich der Trend junger Menschen zu Altem, Abgelegtem, aber wir müssen die Schuld auch bei der Fahrradindustrie suchen. Eine Branche, die Produkte anbietet, die bei den jungen Leuten nicht ankommen, macht etwas falsch.

Wir haben heute endlich Fahrräder, die funktionieren. Wenn ich daran denke, mit welchen Bremsen, mit welcher Übersetzung ich über die Alpen gefahren bin... Über den seinerzeit besten Gepäckträger, den ich 1984 gekauft habe, würde man heute die Nase rümpfen. Die Preise sind gefallen, der Kunde bekommt immer mehr für sein Geld. Aber die Fahrradbranche schafft es nicht, Produkte anzubieten, die für junge Leute zwischen 20 und 30 interessant sind. Das ist wirklich traurig.

Der Radverkehrsanteil in Frankfurt hat deutlich zugenommen, die Infrastruktur hat sich verbessert. Das kann doch nicht spurlos an der Fahrradindustrie oder am Handel vorbei gegangen sein.
Die Preise im Fachhandel sind sehr niedrig hier in Deutschland. Der Durchschnittspreis für ein Fahrrad im Fachhandel (ohne die Billiganbieter wie Aldi und Co.) liegt bei unter 500 Euro. Die Räder, die in deutschen Großstädten auf der Straße zu sehen sind, sind qualitativ deutlich schlechter als in vergleichbaren Ländern wie Dänemark, Holland oder der Schweiz.

Ich habe den Eindruck, dass wieder mehr Menschen angefangen haben, sich auf das Fahrrad zu besinnen und nun erst einmal ein altes Rad aus dem Keller holen. Wir haben in letzter Zeit Ersatzteile  angeschafft, die wir schon seit über zehn Jahren nicht mehr im Lager hatten. Thompson-Kugelringe, Klemmschrauben für die einfachste Bremse, Stempelbremsgummi – Fahrräder aus den 80er Jahren, von denen ich glaubte, ich sehe sie nie wieder, sind plötzlich wieder aufgetaucht.
Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt, wir haben seit 30 Jahren eine Grüne Partei, doch wir schaffen es nicht, schicke, tolle, preiswerte Fahrrräder anzubieten.

Ist das nicht auch eine Frage der Vermarktung? Wird die Zielgruppe nicht passend angesprochen? Warum schafft die Automobilindustrie das? Kann sie mehr Geld für Werbung einsetzen?
Ja, natürlich. Doch das kann die Fahrradbranche nicht. Sie ist viel zu zersplittert, viel zu kleinteilig. Frühere Umfragen haben gezeigt, dass selbst bekannte Markennamen nur Marktanteile von ein, zwei Prozent erreichen. Die Kunden kennen Namen wie Shimano, doch ein einzelner Fahrradhersteller kann es kaum schaffen, als Marke wahrgenommen zu werden.

Kann hier nicht die Verkehrspolitik mehr tun für das Image des Fahrrades an sich?
Der normale Politiker, der sich für das Fahrrad engagiert, wird mit einem Damenrad abgelichtet. Das hat er sich von seiner Frau für diesen Pressetermin geliehen...

... der hessische Verkehrsminister Dieter Posch fährt mit dem Rad durch die Dolomiten...
Ja klar, das mag sein. Doch mein großes Anliegen war eigentlich immer, den Kontakt zu den Herstellern zu finden. Auf unzähligen Messebesuchen habe ich das Gespräch gesucht, um die Branche zu informieren, was unsere Kunden wünschen.

Du sagtest, wir hätten heute endlich Fahrräder, die funktionieren. Die müssen die Kunden aber kennen lernen. Schon mancher hat im Urlaub irgendwo ein modernes Rad geliehen und ist dadurch erst auf aktuelle Velotechnik gestoßen. Danach wurde das alte 80er-Jahre-Rad umgehend gegen ein modernes Modell ausgetauscht.
So ging es mir, als ich im Alter von 18 Jahren in Norddeutschland Radfahren lernte. In der Schule war ich ein Sportmuffel. Erst mit dem Rad kam die Begeisterung für körperliche Bewegung. Und als ich dann das erste vernünftige Rad besaß, überkamen mich unglaubliche Glücksgefühle. Drei Psychotherapeuten hätten nicht mehr bei mir erreichen können. Und nun, nachdem die Fahrräder deutlich besser geworden, die Preise dafür aber nicht gleichermaßen gestiegen sind, muss ich erleben, mit welchem Schrott viele Leute noch unterwegs sind. Das tut mir persönlich weh und ich befürchte, dass man eine ganze Generation verliert für das Radfahren an sich.

Aber es werden doch hier in der Stadt eine Unmenge von modernen Mountainbikes gefahren...
Das ist eine Mode. Die Dinger bremsen zwar wenigstens gut, sind aber kaum alltagstauglich. Da kommen wir gleich wieder zur Fahrradbranche: Die Branche rekrutiert ihr Personal häufig aus der Rennszene. Ehemalige Mountainbike- oder Straßenrennfahrer landen nach der aktiven Zeit in der Fahrradindustrie. Was bedeutet das? Diese Leute kommen vom Sport, sie kommen nicht vom Radfahren! Und es sind zu 90 Prozent Männer! Und die sollen ein Alltagsrad für Frauen entwickeln? Für Frauen, die in weiten Teilen der Republik das Rad täglich nutzen. Denn weiterhin ist in den mittelgroßen Städten, in denen der größte Teil der Bevölkerung lebt, die Frau diejenige, die das Fahrrad auf den täglichen Wegen benutzt, während der Mann mit dem Auto zur Arbeit pendelt.

Der Markt wird überschwemmt von Billigrädern aus den Baumärkten und Discountern.
Es ist eigentlich kein Problem, ein Fahrrad herzustellen, das vernünftig funktioniert. Nur muss dieses Rad auch vernünftig montiert werden. Daran hapert es bei den ganzen Billiganbieter.
Auch wir hatten große Probleme mit unserem alten Hauptlieferanten. Für die Endmontage der Räder stehen uns rechnerisch 20 Minuten zur Verfügung. Kommen die Räder vom Hersteller aber nur mangelhaft vormontiert, benötigen wir 30, 40 Minuten, manchmal auch eine Stunde für die Endmontage. Das rechnet sich für uns auf Dauer nicht. Leider weiß das der Verbraucher nicht zu schätzen. Er weiß halt nicht, dass der seriöse Fachhandel mehr macht als nur Pedale in die Kurbelarme zu schrauben und den Lenker gerade zu stellen. Zum Glück für uns funktioniert die Zusammenarbeit mit unserem jetzigen Partner Patria gut. Denn wir können es uns einfach nicht leisten, bei Preisen um die 700, 800 Euro je Rad eine Stunde in der Werkstatt zuzubringen.

Wie macht das der Internethandel? Ich habe gesehen, dass Versandhändler Videos mit einer Montageanleitung anbieten.
Ja, eine gute Idee. Allerdings schreiben Sie in Ihre Verkaufsbedingungen, dass der Käufer das Rad nach 100 gefahrenen Kilometern zur Erstinspektion bringen soll. Wohin denn? Da wird der Käufer allein gelassen, die Verantwortung wird auf ihn abgewälzt.

Er müsste sich dann mit euch als Händler vor Ort arrangieren...
Wir nehmen solche Arbeiten nicht an. Wir wollen und können uns da nicht engagieren, denn wir würden ja direkt in die Haftung treten – bei einem Rad, das nicht bei uns gekauft wurde.

Wie geht es technisch weiter mit dem Velo? Ich sehe im Alltag kaum noch vollgefederte Räder auf der Straße. Ist der Boom abgeflaut?
Vollgefederte Alltagsräder verkaufen wir kaum noch. Wir hatten in der Anfangszeit enorme Probleme mit Rädern auch namhafter Hersteller. Die neuen Modelle waren nicht zur Serienreife entwickeln worden. Unser Laden war vollgestellt mit gefederten Rädern, doch dann kamen Rückrufaktionen wegen Problemen mit dem Hinterbau. In vielen Fällen war ein kompletter Austausch notwendig. Oder die Kunden kamen nach zwei Jahren zu uns, weil ihnen das Fahrrad fast auseinander gefallen war. So etwas darf eigentlich nicht passieren.
Um das Jahr 2000 war ein Viertel aller Räder im Handel gefedert. Und heute? Riese und Müller ist einer der wenigen Hersteller, der sich seriös damit auseinander setzt, aber die meisten anderen haben es einfach nicht hingekriegt. Inzwischen sieht man diese Modelle kaum noch auf der Straße.

Und was hältst du von den Elektrorädern, die im Augenblick in Massen angeboten werden?
Da sehe ich auch noch Probleme auf uns zukommen. Denn mein Eindruck ist, dass viele Hersteller schlicht das bestehende Fahrradkonzept um einen Hilfsantrieb erweitern. Vernachlässigt wird dabei, dass in einem Elektrorad ganz andere Kräfte auf Rahmen und Anbauteile wirken. Das Rad ist schwerer, fährt schneller, mehr Masse muss gebremst werden – da sollte der herkömmliche Lenker schon gegen ein stabileres Rohr ausgetauscht werden, um lebensgefährliche Bruchstellen zu vermeiden. „Diese Rohre verwenden wir schon seit Jahren, Frau Tyrer“, höre ich aus der Entwicklungsabteilung eines deutschen Herstellers. Jetzt bin ich gespannt darauf, wann die ersten Sattelstützen der Belastung nicht mehr gewachsen sind.

Kannst du das beurteilen?
Ich habe mich in all den Jahren viel mit Materialkunde und Physik beschäftigt. Meine abendliche Bettlektüre bestand oft aus dicken technischen Wälzern. Und dann finde ich auch noch Bestätigung meiner Befürchtungen bei unseren Lieferanten.
Grundsätzlich aber halte ich die Idee des Elektrobikes für sehr zeitgemäß. Nicht nur hier bei uns, mit einer älter werdenden Bevölkerung, sondern auch in weniger entwickelten Ländern kann das E-Bike zu größerer Mobilität beitragen. In Kulturen, in denen das normale Radfahren verpönt ist, könnte das E-Bike leichter Akzeptanz finden.

Wenig durch Technik belastet sind die Single-Speed-Räder, die von jungen Leuten gefahren werden.
Das ist nicht unser Marktsegment, die Räder sind nicht alltagstauglich. Aber sie könnten ein Zugang zur Fahrradbegeisterung für die „Generation Download“ sein. Ein Freund bastelt mit seinen Söhnen Single-Speed-Räder. Durch die einfache Technik, ohne komplizierte Schaltung, haben die Jungs sich schnell für das Mechanische begeistert. Vielleicht trägt diese Begeisterung ja weiter, irgendwann hin zu moderner Fahrradtechnik.

Du warst in der Türkei, kommst gerade aus Istanbul zurück. Wird dort Rad gefahren?
Konya ist eine Radsporthochburg, und inzwischen gibt es auch eine Türkeirundfahrt. Aber jenseits des Sports findet Radfahren kaum statt. Obwohl – auf einer Halbinsel, zwei Fähr-Stunden von Istanbul entfernt, entwickelt sich ein wenig Fahrradtourismus. Es gibt hier eine 120 km lange, verkehrsarme Straße um die Halbinsel. Dort habe ich erste Istanbuler mit Packtaschen gesehen, die am Wochenende eine zweitägige Radtour vom Fähranleger um die Insel machen.

Peter Sauer

2 Dezember, 2010 I ADFC Frankfurt am Main e. V. |