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Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt am Main

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Artikel dieser Ausgabe

Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt

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"In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!"

Prinz Friedrich von Homburg, V, 11
(Schlachtruf der Offiziere zum Ausklang des Stückes)

Heinrich von Kleist

Von Brandenburg durch Brandenburg
nach Brandenburg

1.111 km lang soll er sein, der Radfernweg "Tour Brandenburg", und durchgängig gekennzeichnet durch einen fliegenden roten Adler. Das wollen wir nachprüfen, mein saarländischer Mitradler Gerhard und ich. Also treffen wir uns am 15. August 2012 in Brandenburg/Havel. Dorthin wollen wir auch wieder zurück nach einer Runde durch Brandenburg (das Bundesland).

Start ist, wie es sich gehört, in einer Bett&Bike-Herberge, deren Wirt sowohl fahrradbegeistert als auch Musikant ist. Das berühmte Brandenburger Lied vom Barbier Fritze Bollmann, der beim Angeln in den Beetzsee fiel, muss jeder Radler nach dem Frühstück mit ihm singen. Wir entgehen dem nur, weil wir sehr früh aufbrechen: Das Schifferklavier lag schon im Frühstücksraum, nur war der Wirt noch im Bett.

Gerhard hat knallbunte Fahrradtaschen; die einzige Farbe, die an seinem Rad noch fehlt, ist Grün. Also schenke ich ihm einen grünen hr4-Sattelschutz, den mir der hessische ADFC massenhaft zugesandt hat.

Foto: Gerhard Bartsch">

Foto links: Storch mit Reiseradler, Anwohnerin und Hund in Rühstädt an der Elbe
Foto rechts: "Schwarzer See" (Flecken Zechlin bei Rheinsberg)
Fotos: Gerhard Bartsch

Die ersten Kilometer werden sich als typisch fürs Land Brandenburg erweisen: schöne Wege in schattigem Wald in unmittelbarer Nähe von Seen oder Flüssen. (Nur ein freihändiger Radler mit Handy und Zigarette trübt das Bild vorübergehend.) Auf der Havelfähre in Havelsee treffen wir Mutter und Tochter, die Pflaumen pflücken wollen. Aufkommender Regen hält Gerhard davon ab, sich ihnen anzuschließen. Über Rathenow nach Hohennauen. Der nächste Ort heißt Wassersuppe; also essen wir lieber schon vorher in Hohennauen. Bei Stölln ist vor vielen Jahren der Flugpionier Otto Lilienthal auf die Nase gefallen. Jetzt steht dort "Lady Agnes" auf einer Wiese, ein Passagier-Jet, der in den letzten Tagen der DDR für immer gelandet ist. In Rhinow finden wir kein Bett, obwohl wir bürgermeisterliche Hilfe in Anspruch nehmen. Daher weiter nach Strodehne ins "Sonnenhaus", das über 200 Jahre alt ist und gerade originalgetreu renoviert wird. Die Herbergsmutter empfiehlt Heilfasten, stößt bei uns aber nicht auf Gegenliebe, kein Wunder nach 110 km.

Weiter an der Havel nach Havelberg, wo ich, entgegen anfänglicher Behauptungen, doch schon einmal gewesen bin. Wir kommen bei Rühstädt an die Elbe. Einer der vielen Störche im Dorf lässt sich fast streicheln. Wir erreichen Wittenberge; da wir die Elbstrecke bis Lenzen kennen, wollen wir ein wenig mogeln und auf dem Gänseradweg direkt nach Perleberg fahren. Vorher kommen wir zum Wochenmarkt in Wittenberge. Ein Stand bietet fast nur Tomaten an, die aber massenhaft. Ich will eine Tomate kaufen. Elisa (so heißt die Verkäuferin) besteht darauf, sie mir zu schenken. Eine einzige wiege ja nichts. Ich weise sie darauf hin, dass sie die Tomate gepflanzt, gegossen, gepflückt und hierher gebracht habe. Es hilft nicht: Elisa will kein Geld. Die Tomate ist ganz wunderbar. Ich mache lautstark Reklame dafür auf dem Marktplatz, Gerhard kauft daraufhin zwei. (Sein Pedal klickt, ein 15er-Schlüssel schafft Abhilfe. Das muss laut Gerhard unbedingt ins Protokoll.) Weiter nach Perleberg, Essen im "Deutschen Kaiser", man gönnt sich ja sonst nichts. Vor Groß-Langerwisch ein Bahnübergang, von links plötzlich ein mehrfaches Getröte. Es erscheint ein roter Schienenbus aus den 50er Jahren, wie aus einem Museum. Wir halten staunend an. Plötzlich klappt ein Mann mit grimmiger Miene sein Stativ zusammen, springt ins Auto und rast dem Schienenbus in Richtung Kuhbier hinterher. Wir haben ihm unabsichtlich sowohl Optik als auch Akustik seiner Aufnahme vermasselt. In Kuhbier hätten wir – wie in Wassersuppe – ohnehin nichts getrunken. In Pritzwalk lockt mich ein kleiner Hund ins Hotel "Birkenwäldchen"; er kläfft nur dann empört, wenn jemand vorbei- oder fortgeht. Man könnte stundenlang mit ihm Ball spielen, dazu habe ich aber nach 102 km nur begrenzt Lust.

Am folgenden Tag fahren wir nur 65 km bis Dorf Zechlin, da die Tourist-Info im Flecken Zechlin uns vor Zimmerknappheit in Rheinsberg und Fürstenberg warnt. Es ist schließlich Samstag, die Berliner seien alle auf Achse, in Sachsen und Sachsen-Anhalt seien noch Ferien, am schlimmsten aber: in Rheinsberg feiern 600 (sechshundert) Köche ihren Heiligen, den Laurentius. (Und wer kocht für uns?) Wir landen im Hotel "Waldeck" direkt am Radweg. Gerhard äußert sich begeistert über die schönen Radwege im kühlen Wald, moniert jedoch aufquellende Baumwurzeln im Asphalt. Hier habe man vor zwanzig Jahren am falschen Ende gespart. Saarländer sparen eben immer am richtigen Ende! Zur Entlastung der wenigen Köche, die nicht in Rheinsberg sind, essen wir abends von einem fettigen Spanferkel auf einem Sommerfest wenige Meter vom Hotel entfernt. Eine Sängerin im Pettycoat besingt, durchaus überzeugend, die 50er Jahre aus DDR-Sicht, allerdings mit West-Musik.

Foto links: Hier geht's nach Kuhbier!
Foto rechts: Woher, wohin, wieviel
Fotos: Gerhard Bartsch

Wir fahren nach Rheinsberg, bewundern das Schloss von außen und landen dann in Fürstenberg im Biergarten am Schwedtsee. "Im Saarland ist es so heiß, dass die Leute im Keller schlafen", erzählt Gerhard. Ein ehemaliger Förster antwortet: "Ich muss immer im Keller schlafen, sehen Sie doch meine Frau an." Die Frau lacht dazu.

In Fürstenberg bündeln sich auf zehn Kilometern die drei Radwege Tour Brandenburg, Havel-Radweg und Berlin-Kopenhagen: ein idealer Ort, um Reiseradler zu befragen. Direkt beim ehemaligen Konzentrationslager werden auch wir angehalten und befragt nach Woher, Wohin, Verkehrsmitteln, Übernachtungen, Geldausgaben pro Tag, Meinung über den Weg, etc., etc.. (Nur nach dem Warum fragt keiner, wir hätten auch keine Antwort gewusst.) Es ist sehr heiß, aber der Radweg verläuft in herrlich kühlem Wald, vorbei an Spitzenlandschaften an der Klosterruine Himmelpfort und in Lychen. Auf der alten Bahnlinie verkehren jetzt Draisinen.

Wir erreichen Templin/Uckermark nach 90 km. Unterkünfte sind rar. Wir wohnen für relativ viel Geld im Landsitz-Hotel, einer Kombination aus Altenheim, Wellness-Tempel und Hotel. Gerhards feine Nase riecht Urin, er spricht von Inkontinenz.

Das gute Frühstück versöhnt uns mit dem Preis. Ein Opa sagt zu mir: "Heute wird's noch mal heiß." "Wir müssen trotzdem Rad fahren", sage ich. Antwort: "Aba nich ssu dolle, wa?"

Im Dorf Friedrichswalde habe ich Durst und gehe in eine Eisdiele, die, obwohl offen, noch nicht geöffnet sei, wie mir ein Mann erklärt. Er sei, obwohl Besitzer, nur das Faktotum. Als ich zu fragen wage, ob sich der Laden lohne, erfahre ich in kürzester Zeit alles: achtzehn Eissorten im Angebot; die Tochter betreibe den Laden; man sei an der Hauptstraße und weithin für Qualität bekannt, etc., etc.. In Chorin quält uns das Kopfsteinpflaster, wir lassen das Kloster aus und fahren zum historischen Bahnhof, wo wir unseren Durst erfolgreich mit Choriner Streuobstsaft bekämpfen. Das Schiffshebewerk in Niederfinow erreichen wir in der Mittagshitze. Die Essenspause nutze ich zum Umziehen: Ab jetzt fahre ich ohne Socken in Sandalen. Die Straße zwischen Liepe und Oderberg ist halbalpin, aber den steigungsfreien Umweg über Bralitz lehnen wir ab. Ab Oderberg wird der Himmel dunkelblau und droht mit Unwetter. Ich werde etwas nervös; Gerhard jedoch beharrt auf seinen Pflichten als Fotograf und will unbedingt an die Oder. Er bekommt was er will, obwohl das letzte Wegstück miserabel ist. Wir fahren vor dem dunkelblauen Himmel her und haben kaum das Touristik-Büro in Bad Freienwalde erreicht, als es losgeht: Blitz, Donner, Sturm, Regen und Hagelkörner von bis zu zwei Zentimetern Durchmesser. Gut, dass die freundliche Dame im Büro lange Zeit wegen einer Unterkunft telefonieren muss. Später erfahren wir: Unsere Gastgeberin wollte die Vermietung an Radler vermeiden wegen des steilen Anstiegs (und weil sie nach zehnstündigem Arbeitstag in Seelow wenig Lust hatte, zwei Betten herzurichten). Wir beziehen Zimmer im Keller eines Bungalows. Zum Essen müssen wir steil hinunter ins Tal. Und das nach 100 km! Als wir wieder oben sind, ist die Wirtin so gerührt, dass sie darauf besteht, den Preis zu senken. (Ich glaube, Reiseradler wirken immer ein wenig bedürftig (siehe die Tomate in Wittenberge); denn wenn sie es nicht wären, hätten sie ja ein Auto.)

Wir hinterlassen Trinkgeld wegen der gesenkten Preise. Nach dem Frühstück im Tal besichtigen wir während der Fahrt zahlreiche Gewitterschäden an Bäumen. In Wriezen gibt es um halb zehn das erste Bier an der Kalkofen-Brauerei. Gerhard freut sich über nummerierte gelbe Plastik-Enten aus einem Entenrennen. Es geht in die Berge über die Wasserscheide zwischen Oder und Spree. Um 12 Uhr sind wir nach 53 km in Strausberg und essen in der Nähe der kuriosen Fähre, die ihren Strom aus einer Oberleitung bezieht. Der Radweg direkt am Straussee ist sehr eng und an einer Stelle plötzlich durch ein Arbeitsfahrzeug versperrt. Ein älterer Mann vor uns ist dadurch verwirrt, will uns vorbeilassen, steigt zur Seeseite ab und stürzt samt Rad kopfüber in den See. Zusammen mit seiner Frau ziehen wir ihn samt Rad wieder heraus; er ist benommen, aber offenbar nicht weiter verletzt. Ab Rehfelde folgen wir nun dem Europaradweg R1 bis Erkner. In Wernsdorf letzter Halt mit sehr preiswerten Getränken, bis wir dann nach 98 km bei meiner Schwester in Eichwalde eintreffen.

Der nächste Tag dient der Besichtigung von Potsdam, Gerhard zuliebe, der noch nie dort war. Wir fahren samt Rädern mit der S-Bahn von Eichwalde hin und wieder zurück. Stadtrundfahrt von rund 25 km in Potsdam mit äußerlicher Besichtigung all dessen, was preußische Könige da in den brandenburgischen Sand gesetzt haben. Am Neuen Palais geraten wir ins Getümmel der Ausstellung zum 300. Geburtstag von Friedrich dem Großen.

Am nächsten Tag insgesamt 70 km von Eichwalde über Köpenick zum Europaweg R1, dann durch Berlin, den Grunewald und über die Glienicker Brücke nach Potsdam. Dabei passieren wir unter anderem die Eastside-Galery mit ihren bemalten Resten der Mauer und das anarchische Treiben vor dem Brandenburger Tor. Die besten Bratkartoffeln der gesamten Tour gibt es in Nikolassee am Biker-Treff. In Potsdam können wir trotz Beschwörung aller preußischen Könige und Kaiser kein Bett für uns ergattern. Also müssen wir ein wenig mogeln, buchen via Bett&Bike zwei Einzelzimmer in Brandenburg und nehmen den Zug dorthin. Leider stürzt Gerhard beim Duschen und ramponiert seinen Rücken und auch ein wenig Tür und Rahmen. Wir rechnen hoch und erkennen, dass die 1.111 km Gesamtlänge der Tour Brandenburg wohl stimmen; den Rest müssen wir uns aber für später aufheben. Tschüss, roter Adler!

Rückfahrt mit der Eisenbahn mit Nahverkehrsticket und sieben- bis achtfachem Umsteigen. Gerhard kann wegen seines Sturzes sein Rad und Gepäck nicht mehr alleine heben. Er erklärt im Zug zwei Jugendlichen aus Berlin, die per Rad über die Alpen nach Bozen wollen, die Fahrradtauglichkeit aller Pässe in der Schweiz und in Österreich und erhält dafür die Zusage für Hilfe beim Umsteigen. In Erfurt müssen wir uns trennen. Zwei Jungs blockieren mit ihren angeschlossenen seltsamen Fahrrädern ohne Bremsen mein Rad, so dass ich nicht in Ffm-Süd, sondern erst im Hauptbahnhof aussteigen kann.

Man sieht: Radtouren sind voller Tücken bis zum Schluss!

Günther Gräning