Skip to content

Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt am Main

Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt am Main   

Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt am Main

Artikel dieser Ausgabe

Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt

Artikel dieser Ausgabe

Bild zum Artikel Dort, auf der anderen Seite des Rheins, muss der Stein zu finden sein, den unser Autor am Beginn seiner Tour unter einer Bank vergraben hat.
Foto: Paul Tiedemann

Grenzerfahrung

Eine Radtour mit dem Pedelec rund um Deutschland, Teil IV

Unser Autor hat sich im ersten Teil seiner Grenzerfahrung entlang der deutsch-französischen und luxemburgischen Grenze nach Norden bewegt. An der Nordseeküste traf er im zweiten Teil mit einem Freund zusammen, der ihn ein paar Tage auf seiner Grenzland-Tour begleitete. Weiter ging es im deutsch-tschechischen Grenzgebiet. Nun naht das Ende der Reise. Entlang des Rheins, als Grenzfluss zur Schweiz und zu Frankreich, nähert sich der Autor dem Ausgangspunkt seiner Reise und beendet damit seine "Grenzerfahrung".

(die Redaktion)

Donnerstag, 28. Juli (68. Tag)
Oberstdorf – Lindau
76,17 km

Ich sitze im Hafen von Lindau direkt am Wasser des Bodensees und bin höchst zufrieden mit mir und der Welt. Heute Morgen habe ich mir in der Tourist-Information in Oberstdorf den letzten Stempel in meinen Zipfelbundpass eintragen lassen und bekomme jetzt ein Geschenk nach Hause geschickt, dessen Inhalt sie mir nicht verraten haben. Ein bisschen enttäuscht bin ich darüber, dass der Mitarbeiterin in der TouristInfo nicht aufgefallen ist, dass ich alle vier Städte (Selfkant, List, Görlitz und Oberstdorf) innerhalb von sechs Wochen mit dem Rad besucht habe.

Von Oberstdorf nach Immenstadt geht es erstmal schön flott bei leichtem Gefälle vorwärts. Doch dann kommen Hügel, deren Steigungen steiler sind als alles, was ich in den Alpen erlebt hatte. Welches Glück, als ich endlich im Tal den Bodensee erspähe. Keine Berge mehr und keine Hügel, sondern einfach nur den Rhein entlang ans Ziel.

Freitag, 29. Juli (69. Tag)
Lindau – Büsingen
94,51 km

Von Lindau fahre ich heute erst einmal auf dem Bodensee-Radweg über Friedrichshafen nach Meersburg. Allerdings verläuft der Weg nicht, wie ich dachte, am See entlang, sondern führt durch die Orte. Vor Jahren bin ich schon mal den Bodensee auf der Schweizer Seite entlang gefahren. Dort liegt der Weg direkt am Ufer und ist viel schöner. In Meersburg nehme ich die Fähre (Nr. 14) nach Konstanz, fahre über den Rhein und dann auf der Schweizer Seite den Untersee entlang bis Stein am Rhein, von wo ich wieder auf der rechtsrheinischen Seite weiterfahre. Die Strecke ist nicht so eben, wie ich erwartet hatte. Es geht nicht selten vom Ufer weg und über die Höhen. Bei Hemishofen geht es wieder auf deutsches Gebiet und hinter Diessenhofen wieder auf schweizerisches.

Die deutsch-schweizerische Grenze ist die einzige rund um Deutschland, von der man behaupten kann, dass sie – mit einer Ausnahme, von der gleich die Rede sein wird – nicht von politischen Mächten gegen oder ohne den Willen der betroffenen Bevölkerung gezogen worden ist. Sie verdankt sich vielmehr dem Umstand, dass die Bevölkerung selbst es war, die in einem Jahrhunderte dauernden Freiheitskampf die Unabhängigkeit von Österreich erstritten und die Eidgenossenschaft gegründet hat. Im Westfälischen Frieden von 1648 wurde diese Freiheit völkerrechtlich anerkannt. Seitdem gibt es keinen Streit mehr um den Verlauf dieses Grenzabschnitts.

Dass es auf diesem so positiven Bild einen unschönen kleinen Flecken gibt, erfahre ich, als ich kurz vor dem Dorf Büsingen plötzlich ein altes ovales deutsches Grenzschild mit dem schwarzen Adler auf gelbem Grund mit roten Klauen und Schnabel passiere, wie ich es sonst an keinem Grenzübergang mehr gesehen habe. Überall sonst stehen die blauen Schilder mit dem Sternenkranz (oder gar kein Schild). Ich bin also wieder in Deutschland, aber bin ich auch in der Europäischen Union? – Tatsächlich habe ich ein Stück lebende frühe Neuzeit betreten. Was für das Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg Gang und Gäbe war, nämlich ein Gesprengsel von Exklaven einer Unzahl verschiedener Staaten, die kein einheitlich verbundenes Staatsgebiet hatten, das ist hier noch erhalten: Ich betrete die deutsche Exklave Büsingen. Das Dorf gehört zu Deutschland, ist aber rund herum ausschließlich von schweizerischem Hoheitsgebiet umgeben.

Bild zum Artikel Mit Silberstift beschriftet und vor der Abfahrt am Startpunkt vergraben: Der Stein erinnert den Autor an die längste Radtour seines Lebens
Foto: Paul Tiedemann

Die Ursache für diese Merkwürdigkeit liegt in Ereignissen, die im 17. Jahrhundert stattgefunden haben. Damals gehörten die Dörfer im Umkreis zum Hoheitsgebiet Österreichs. Die Habsburger hatten die Stadt Schaffhausen mit der Gerichtsbarkeit über diese Dörfer belehnt. Diese Aufgabe nahmen Vögte wahr. Ein solcher Vogt war Eberhard Im Thurn in Büsingen. Während Schaffhausen 1529 die Reformation eingeführt hatte, unterhielt Eberhard enge Beziehungen zum Bischof von Konstanz und zu den katholischen Landesherrn in Wien. Das verärgerte die Schaffhauser so, dass sie ihn am 10. April 1693 entführen und in Schaffhausen einkerkern ließen. Das wiederum brachte die Österreicher auf den Plan. Erst nachdem diese der Stadt Schaffhausen die Gerichtsbarkeit über sämtliche Dörfer der Umgebung entzogen hatten, gaben die Schaffhauser nach und ließen Eberhard frei. Zu horrenden Preisen konnte Schaffhausen in der Folge die Rechte über die Dörfer wieder erwerben. Nur die Herrschaft über Büsingen wurde ihnen versagt, als Strafe für den Frevel an Eberhard Im Thurn. Im Pressburger Frieden von 1805 ging Büsingen von Österreich auf Württemberg über und später kam es zum Großherzogtum Baden. Die übrigen Dörfer kamen zum Kanton Schaffhausen und damit zur Schweizerischen Eidgenossenschaft.

1918 sprachen sich 96 % der Büsinger für den Anschluss an die Schweiz aus. Dazu kam es nicht, weil Deutschland einen Geländetausch verlangte und die Schweiz kein Gebiet hatte, das man zum Tausch hätte anbieten können. Es ist bemerkenswert, dass es auf die betroffenen Menschen dabei offensichtlich überhaupt nicht ankam, sondern nur auf das Gelände. 1956 konnten die Büsinger erreichen, dass es doch noch zu Verhandlungen über die Angliederung Büsingens an die Eidgenossenschaft kam. Diese Verhandlungen scheiterten am Widerstand des Landkreises Konstanz.

Wirtschaftlich gehört Büsingen heute zur Schweiz. Die Preise sind in CHF (Schweizer Franken) angegeben, das Preisniveau ist schweizerisch, man wird mit "Gruezi" begrüßt und die Menschen arbeiten in der Schweiz. Ihre Steuern müssen sie aber nach Deutschland abführen. Weil das Einkommensniveau schweizerischen Standards folgt, also wesentlich höher ist als in Deutschland, führt das zu einer steuerlichen Mehrbelastung, die auch durch einen Freibetrag nicht ausgeräumt wird. Hier zeigt sich, wie eine Bevölkerung unter willkürlichen Grenzziehungen leidet, deren Ursachen eigentlich schon immer lächerlich waren. Viele Büsinger sehen sich deshalb genötigt, ihr Dorf zu verlassen und ihren Wohnsitz in der Schweiz zu nehmen.

Samstag, 30. Juli (70. Tag)
Büsingen – Bad Säckingen
77,7 km

Dummerweise verlasse ich mich auf das Navi, das mich über Klettgau und über recht unwegsames Gelände führt. Besser, wenn auch etwas länger, wäre der Weg direkt am Rhein gewesen. 8 km vor Bad Säckingen knacke ich die 4.000-km-Marke. Ich will einfach nur noch nach Hause.

Sonntag, 31. Juli (71. Tag)
Bad Säckingen – Neuenburg
79,71 km

Bei leichtem Nieselregen und später etwas heftigerem Regen fahre ich auf dem Rhein-Radweg von Bad Säckingen durch Basel nach Neuenburg am Rhein. Hinter Grenzach-Wyhlen geht es zum letzten Mal in die Schweiz. Ich fahre entlang des Rheins durch Basel und betrete am Ausgang des Basler Hafens wieder deutsches Gebiet. Von nun an verläuft der Weg wieder entlang der französischen Grenze.

Bild zum Artikel Der Autor, ein pensionierter Verwaltungsrichter, hat sich nach dem Eintritt in den Ruhestand einen lange bedachten Wunsch erfüllt: Eine Radtour rund um Deutschland.
Foto: Paul Tiedemann

Auf der anderen Rheinseite liegt das Elsass, das bis in den Dreißigjährigen Krieg zum Deutschen Reich gehörte. Im Jahre 1633 nutzte Frankreich unter Ludwig XIV. die Gunst der Stunde und besetzte das Elsass. Mit dem Westfälischen Frieden von 1648 bekam Frankreich die früher habsburgischen Gebiete des Elsass zugesprochen, im Anschluss an den Pfälzischen Erbfolgekrieg im Vertrag von Rijswijk im Jahre 1697 auch die ehemalige Reichsstadt Straßburg und weitere Städte, so dass das Elsass seitdem auch völkerrechtlich vollständig französisches Hoheitsgebiet war und der Rhein die Grenze zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation bildete. Auf dem Wiener Kongress 1815 konnte Frankreich dank des Verhandlungsgeschicks seines Außenministers Talleyrand eine Arrondierung durchsetzen. Die unseligen deutsch-französischen Kriege zwischen 1870 und 1945 führten dazu, dass das Elsass für kurze Zeit, nämlich von 1870 bis 1918 wieder zu Deutschland kam. Durch den Versailler Vertrag wurde letztmalig eine völkerrechtliche Grundlage für die Zugehörigkeit des Elsass zu Frankreich geschaffen. Die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkrieges wurde völkerrechtlich nie relevant.

Da der Weg kiesig ist, saue ich mir durch den Regen das Rad wieder völlig ein. In Neuenburg angekommen, dusche ich und will mich danach nur kurz aufs Bett legen. Doch dann schlafe ich tief ein. Als mich um 17:00 Uhr das Glockenspiel auf dem Marktplatz weckt, brauche ich einige Minuten, um mich wieder zu orientieren. Ich fühle eine tiefe Grundmüdigkeit und denke, dass es nach meiner Rückkehr etwas dauern wird, bis sie überwunden ist.

Montag, 1. August (72. Tag)
Neuenburg – Kehl
123,09 km

Heute geht es in einem Par-Force-Ritt von Neuenburg nach Kehl, 123 km und damit wohl die längste Tagesdistanz der Tour. Warum? Einfach, weil ich fertig werden will. Trotzdem überlege ich, ob ich in Meißenheim übernachten soll, einige Kilometer vor Kehl. Dafür spricht, dass der Akku komplett leer ist, dagegen, dass es keine Unterkünfte gibt. Ich frage in einer Werkstatt für Landmaschinen und Motorräder, ob ich meinen Akku aufladen darf. Die Chefin ist einverstanden und will dann näher wissen, woher ich komme und wohin ich fahre. Es entwickelt sich ein nettes Gespräch. Bis Rastatt sind es von hier höchstens 60 km. Dann fehlen noch ca. 20 km bis zum Ziel. Die werde ich übermorgen zelebrieren. Ich war nicht gut eingecremt und habe mir deshalb zum ersten Mal einen Sonnenbrand an den Oberarmen geholt.

Dienstag, 2. August (73. Tag)
Kehl – Rastatt
63,22 km

Im Gasthof Engel an der Kaiserstraße in Rastatt gönne ich mir ein ausgiebiges Siegesessen. Morgen werde ich noch die Ausstellung des Bundesarchivs über deutsche Freiheitsbewegungen im Rastatter Schloss besichtigen.

20:30 Uhr: Gerade habe ich den dritten Teil von Robert Harris' Cicero-Trilogie zu Ende gelesen. Das war eine tolle Lektüre.

Mittwoch, 3. August (74. Tag)
Rastatt – Fähre Neuburg
24,26 km

Heute fahre ich nicht gleich los, sondern besuche noch kurz die Ausstellung des Bundesarchivs zu deutschen Freiheitskämpfen, die im Rastatter Schloss untergebracht ist. Um kurz nach 10:00 Uhr geht es dann nach Plittersdorf, von wo ich die kostenlose Fähre (Nr. 15) auf die französische Seite des Rheins nehme. Im Unterschied zum deutschen Rheinweg, der nur aus Geröllpisten und Feldwegen besteht, ist der französische asphaltiert und äußerst flott zu befahren. Es geht erst vom Rhein weg, um einige Feuchtgebiete zu umgehen. Dann folgt der Weg dem Rhein-Damm, biegt schließlich kurz vor der Grenze nach links ab, überquert die Alte Lauter, die hier die Grenze markiert und geht dann auf der deutschen Seite wieder direkt am Rhein entlang. Nach der nächsten Biegung sind die Fähre und das Gasthaus "Zollhaus" am gegenüber liegenden Ufer zu sehen. Mit Schrittgeschwindigkeit rolle ich die letzten Meter und kann mich wie schon vor Passau einer gewissen Ergriffenheit nicht erwehren. Genau vor der ersten der drei Bänke, die hier stehen, halte ich an. Der Kreis ist geschlossen, das Ziel erreicht. Es ist 11:35 Uhr. Hinter mir liegen laut Gesamtkilometerzähler 4.301 km.

Sofort krame ich den Salatlöffel hervor, den ich zu diesem Zweck mitgenommen habe, und mache mich daran, am hinteren rechten Fuß der Bank das Plastikkästchen auszugraben, das ich am 23. Mai hier versteckt hatte. Doch so tief ich auch grabe, es taucht nicht auf. Tatsächlich hat meine Erinnerung mir über die 10½ Wochen hinweg einen Streich gespielt und aus dem vorderen Fuß den hinteren werden lassen. Als ich endlich richtig grabe, taucht es auch alsbald auf. An was mag ich mich noch alles erinnern, das ich in Wahrheit überhaupt nicht oder ganz anders erlebt habe? – Ich entnehme das Kästchen der Erde, säubere es und öffne es. Es ist voller Wasser. Aber in dem Wasser liegt der Stein, auf dem mit silberner Schrift das Wort "Deutschland Tour" und das Datum der Abfahrt steht. Ich nehme den Silberstift hervor und ergänze die Uhrzeit der Abfahrt sowie Datum und Uhrzeit der Ankunft und den Kilometerstand von 4.301 km. Ich lege den Stein wieder in das Kästchen und verstaue dieses in der Gepäcktasche. Künftig wird er meinen Schreibtisch zieren.

Im Übrigen läuft alles so, wie ich es mir gestern vorgestellt hatte. Nach etwa 90 Minuten begebe ich mich auf die Fähre (Nr. 16), esse auf der anderen Seite noch eine Bratwurst und mache mich auf den Weg nach Karlsruhe. Die längste Radtour meines Lebens ist zu Ende.

Paul Thiedemann