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Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt am Main

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Artikel dieser Ausgabe

Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt

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Es geht um die Macht

Verkehrplanung ist immer eine politische Entscheidung

Bild zum Artikel Radverkehrspolitik ist auch familiengerechte Politik
Foto: Thomas Rousing, Copenhagen Media Center

Jason Henderson, Geographieprofessor an der San Francisco State University, forschte in Dänemark über die Zusammenhänge zwischen Radverkehr, Wohnungsbau, Stadtplanung und Politik. Über seine Erfahrungen, die durchaus auch für die Frankfurter Verkehrspolitik gelten könnten, sprach er im Januar vergangenen Jahres mit Roger Rudick von "Streetsblog San Francisco".


Kopenhagen gilt, mehr noch als Amsterdam, als die Fahrradmetropole schlechthin. Die Stadt hat Vorbildfunktion für alle Radverkehrsplaner, nicht nur in Europa. Die Medien berichten regelmäßig, um den Radverkehr ist gar ein eigener Tourismuszweig gewachsen – alle wollen einmal in der dänischen Hauptstadt Rad fahren. Der Ruf der Stadt ist bis in den Westen der USA vorgedrungen, so dass sich ein Professor aus San Francisco auf den Weg nach Dänemark gemacht hat. Auf "Streetsblog San Francisco" berichtete er über seine Arbeit. Wir geben das Gespräch in gekürzter und überarbeiteter Fassung (und in Deutsch) wieder. Den Originaltext in Englisch findet man unter sf.streetsblog.org, dort nach "Copenhagen" suchen. Dank an Roger Rudick von Streetsblog San Francisco für die Abdruckgenehmigung. (die Red.)


Streetsblog: Sie waren ziemlich lange weg.

Jason Henderson: Ich war für fünf Monate im Rahmen eines Forschungssemesters in Kopenhagen. Das war für mich eine gute Gelegenheit, die Fahrradstadt nicht nur zu besuchen, sondern wirklich zu erfahren – die Jahreszeiten, das Alltagsleben, das Wohnen mitten in der Stadt.

Gleich zu Anfang nahm ich an einem Fahrrad-Kongress teil, bei dem mir ein Freund Übersetzungshilfe leistete. Dort traf ich auf eine Mitarbeiterin der Cycle Super Highways, wir tranken Kaffee, sie empfahl mir weitere Personen, die ich kontaktieren konnte. Darunter waren auch Professoren, die sich mit Radverkehr beschäftigen. So entstanden schnell Kontakte.

SB: Irgendwelche Probleme mit der Sprache?

JH: Nein. Viele Dänen sprechen englisch, viele Texte sind in Englisch verfasst. "The Urban Turn", ein Standardwerk zur Wirtschaftsgeografie Kopenhagens, gab mir ganz gutes Hintergrundwissen. Als Geograph wollte ich mehr wissen über die Radverkehrspolitik im Rahmen der Stadtplanung, über die Verbindungen der verschiedenen gesellschaftlichen Stränge.

SB: Was meinen Sie damit?

JH: Wenn Sie sich die Busse in Kopenhagen anschauen, werden Sie feststellen, dass die Buspassagiere ethnisch viel gemischter sind als die Teilnehmer am Radverkehr. Dänemark ist ein überwiegend "weißes" Land, und das zeigt sich eben auch im Mobilitätsverhalten. Das ist kein großes Thema in der Presse. Doch auch in Kopenhagen gibt es Stadtviertel, die ethnisch gemischter sind als das weiße Dänemark, und das ist eben auch in den Bussen zu sehen.

Bild zum Artikel Auf dem Weg in die Stadt: Berufsverkehr in Kopenhagen
Foto: Kasper Thye, Copenhagen Media Center

SB: Es gibt also einen Zusammenhang zwischen ethnischer Herkunft und der Verkehrsmittelwahl?

JH: Ja, das ist so. Das ist auch in Amsterdam der Fall, speziell mit den Mopeds. Einige Immigranten fahren lieber Moped als Rad. Sie verbinden die Motorisierung mit Erfolg, während Radfahren eher für Scheitern steht.

SB: In Dänemark gibt es einen hohen Grad an sozialer Sicherheit, verbunden mit fortschrittlicher Arbeitsgesetzgebung. Wirkt sich das auf die Verkehrsmittelwahl aus?

JH: Das tut es sicherlich. Ein Beispiel: junge Mütter erhalten großzügigen Erziehungsurlaub. Prompt sieht man überall Transporträder, die mit Kleinkindern unterwegs sind. Das Thema Kinderbetreuung wird in der ganzen Stadt sichtbar und spiegelt die Verkehrspolitik wider. Dadurch, dass auch Familien mit Kindern in der Stadt wohnen, wird deutlich, dass die Stadt für jeden da ist, nicht nur für die jungen Angestellten der Hightech-Branche. Nehmen Sie das Wohnen: Der Trend in Kopenhagen geht zu größeren Wohneinheiten, so dass Familien mit Kindern in der Stadt bleiben können. Das ist auch hier nicht billig. Wenn man jedoch einen Immobilienmarkt schafft, der Menschen das Leben in der ­Innenstadt ermöglicht, werden Kinder mit Cargo-Bikes zur Schule gebracht statt mit dem Auto. Diese Kinder werden dann später ganz selbstverständlich auch Rad fahren wollen.

SB: Trägt also eine Sozialpolitik, die es leichter macht, Kinder in der Stadt aufzuziehen, auch zu einer Verbreitung der Fahrradkultur bei? Wie zeigt sich das auf der Straße? Kopenhagen ist ja berühmt für seine Vielfalt unter den radelnden Verkehrsteilnehmern.

JH: Das ist wunderbar zu sehen. Es gibt drei unterschiedliche Pendlergruppen. Zuerst die am frühen Morgen, wenn Eltern ihre Kinder zur Schule bringen. Danach, sobald die Kinder abgeladen sind, sausen die Eltern mit ihren leeren Kindersitzen oder Cargo-Bikes die Nørrebrogade – eine breite Fahrradstraße – runter. Sichtbar bleibt dabei, dass sie gerade eben noch Kinder transportiert haben. Gegen halb vier Uhr sieht man wieder kleine Kinder auf den Rädern, bevor dann eine gute Stunde später der normale Berufsverkehr losgeht, jetzt ohne Kindertransport. Dann bekommt man eher Angst, dass spielende Kinder von Radfahrern angefahren werden könnten.

SB: Wenn die Kleinen also zurück sind aus der Schule und draußen spielen, besteht die Gefahr, dass sie von schnell fahrenden Radpendlern angefahren werden?

JH: Kopenhagen ist so angelegt, dass die Bevölkerung zum Radfahren ermutigt wird. Doch die Verkehrswege sind für einen Anteil des Radverkehrs von rund 20 Prozent geplant. Inzwischen liegt dieser Anteil bei 40 Prozent. Jetzt haben sie das Problem, das man an einigen reinen Radverkehrskreuzungen fünf Minuten braucht, bis man sie passiert hat. Es gibt einfach zu viele Räder und nicht genug Platz.

Das wird besonders für Kinder zum Problem. Viele Eltern lassen ihr Kinder in der Stadt Rad fahren, doch inzwischen sind die Wege oft überfüllt, viele Radfahrer fahren schneller, manche langsamer, manche rücksichtslos. Doch von einem Mobilitätssystem, egal ob mit Fahrrad, Bahn oder sonstigem, erwarten gerade Familien, dass es eben auch für Kinder funktioniert. Wir müssen eine ehrliche Debatte über die Entwicklung der Stadt führen, jenseits aller ideologischen Wünsche und Vorstellungen.

SB: Eine gute Radverkehrspolitik ist also auch Teil eines größeren politischen Spektrums?

JH: Die gleichen Leute, die das allgemeine Gesundheitssystem oder das Erziehungssystem bedrohen, wollen auch die Kfz-Steuern senken und mehr Straßen bauen, aber kein Geld in die Bahninfrastruktur stecken. Dänemark hatte immer ein gut ausgebautes Bahnnetz, das nun in die Jahre gekommen ist. Jetzt bleibt es hinter der deutschen oder der Schweizer Eisenbahn zurück. Viele alte Dieselloks, keine Schnellfahrstrecken, die Elektrifizierung stagniert wegen des politischen Widerstands von Rechts – die wollen lieber Straßen bauen. Diese rechts gerichtete Regierung erschwert gerade auch die Fahrradpolitik in Kopenhagen.

Trotz dieses Gegenwinds muss man sich aber immer vergegenwärtigen, wo die Dänen heute schon stehen. In Kopenhagen werden über 36 Prozent aller Wege per Rad zurückgelegt, zukünftig sollen es 50 Prozent sein. Aber ich bin nicht sicher, ob das im Augenblick politisch durchsetzbar ist. Natürlich gibt es einige Konservative, die die Fahrradkultur als Teil der dänischen Identität betrachten. Die weißen Nationalisten debattieren darüber, inwieweit Radfahren dänisch ist. Die Rechte ist in dieser Hinsicht gleichauf mit den Sozialdemokraten. Die Linke spricht über Klimawandel, die Rechte hält das für Quatsch, aber auf beiden Seiten finden sich Unterstützer des Radverkehrs.

SB: Politik treibt einen manchmal zu merkwürdigen Seilschaften.

JH: Das stimmt. Aber wichtig ist immer, dass sich die Umweltbewegung nicht irgendwelchen Ideologien beugt. Die Dänen haben in den 70er Jahren auch nicht wegen einer besonderen Kultur mit dem Radfahren begonnen. Sie haben sich die Radinfrastruktur erkämpft, diese war Ergebnis eines politischen Wandels, nicht einer besonderen dänischen Kultur. Es war auch ein Widerstand gegen die Pläne für eine autogerechte Stadt, mit breiten Schneisen mitten durch die City. Und es hat Jahrzehnte gedauert, bis sich diese fahrradfreundliche Politik im Bild der Stadt niedergeschlagen hat. Aber es war immer eine Folge von politischer Führung.

SB: Und was können wir außer der politischen Einschätzung noch mitnehmen?

JH: Das Radverkehrssystem funktioniert. Manchmal steht auch hier ein Lieferwagen auf dem Radstreifen, aber die Kopenhagener halten alles in allem Autos von den Radwegen fern. Die Wegeverbindungen sind perfekt ausgeschildert, eine Straßenkarte ist kaum nötig. Man fährt überwiegend getrennt vom Autoverkehr, das ist sehr befreiend und beruhigend. Aber irgendwann wirst auch du zum Dänen, meckerst über die Infra­struktur, über schmale Radwege … Trotzdem – das dänische Radverkehrssystem ist viel besser als alles, was wir in den USA haben.

SB: Was macht das mit den Auto­fahrern?

JH: Die dürfen nicht erwarten, einfach so in die Stadt zu kommen. Es gibt keinen Anspruch darauf, mit dem Auto in die Stadt fahren zu können. Doch da der Radverkehr auf separaten Spuren verläuft, kommen auch Autofahrer relativ gut voran. Zwar jetzt nicht mehr auf sechs Fahrspuren, sondern nur noch auf einer, auch etwas langsamer, aber doch zuverlässig. Letztendlich ist Zuverlässigkeit, die Kalkulierbarkeit der Fahrt, wichtiger als die reine Geschwindigkeit.

SB: Ist all das nicht doch auch Ausdruck von verschiedenen Kulturen, hier Dänemark, dort die USA?

JH: Nein, das ist es nicht. Wir haben in Kalifornien auch viele Menschen, die gut sind für 40 Prozent Radverkehr. Und unter den Dänen gibt es genau so viele wie bei uns, die sich einen SUV wünschen und die in abgeschlossenen Nachbarschaf­ten wohnen wollen, ohne fremde Einwanderer. Es liegt allein daran, wer die Macht hat. Und wir haben dem Auto zu viel Macht gegeben.

Übersetzung: Peter Sauer