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Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt am Main

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Artikel dieser Ausgabe

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"Huuch – ein Radfahrer!"

Tourenschnipsel aus drei Jahrzehnten

Im Winter und im Frühjahr plant der Reiseradler für die nächste Saison. Er erinnert sich an vergangene Touren und deren Ereignisse. Und er fragt sich: Was blüht mir in diesem Jahr? Welche Gegend kann ich noch unsicher machen? Dabei sind es meist die Menschen, die langfristig in Erinnerung bleiben, nicht so sehr die Landschaft, das Essen und auch nicht das Bier. Hier sind ein paar Schnipsel aus der Vergangenheit. Die Orte werden namentlich genannt, nicht jedoch die Menschen, die bleiben anonym. Aber sie sind das Salz in der Suppe!

Im Jahre 1985 auf einem Wanderweg in der Nähe der Saalburg im Taunus. Ich freue mich über mein erstes Rad mit 26-er Breitreifen und überhole zwei ältere Damen. Beide zucken zusammen, die eine ruft: "Huuch – ein Radfahrer!" Heute nicht mehr vorstellbar: Damals gab es dort oben im Taunus keine Radfahrer!

Ein paar Jahre später auf der Fähre von Nordstrand nach Pellworm in Strucklahnungshörn. Mein Rad hat am Lenker die damals so beliebten "Hörnchen", die ein wenig aussahen wie die alten "Gesundheitslenker", nur verkehrt herum. Dem Bootsmann auf der Fähre sehe ich an, dass er so etwas noch nie gesehen hat. Er umschleicht mein Rad und fragt: "Bist du damit rückwärts gefahren?"

Kurz danach, wieder in Strucklahnungshörn. Ich will nach Amrum, morgens mit der ersten Fähre und samt Fahrrad. Nach Übernachtung vor Ort in meinem VW-Bus frühstücke ich in einem Bäckerladen. Ein stattlicher älterer Herr kommt in den Laden und fragt mich: "Hest Striet to Huus?" Mein hessisches Autokennzeichen muss er gesehen haben und kann also eigentlich nicht mit einer Antwort rechnen. Ich bin auch zunächst sprachlos. Er setzt neu an: "Hest Striet to Huus, dat du alleen fröhstücken muttst?" Jetzt kann ich antworten! Zu seiner Überraschung erzähle ich ihm auf Plattdeutsch, das ich keinen Streit zu Hause habe und was ich vorhabe. Es entspinnt sich ein Gespräch auf Platt über Amrum, das Watt, Fahrräder und alles Mögliche. Nach ein paar Minuten wendet er sich zum Gehen, stutzt an der Tür und sagt: "Nu heff ik doch mien Brötchen vergeten!" Spricht's und erledigt das, wozu er eigentlich gekommen ist. Als er weg ist, fragt mich die Verkäuferin auf Hochdeutsch: "Kannten Sie den Mann?" Als ich verneine, sagt sie: "Komisch, der sagt sonst nie ein Wort!".

Anschließend mit der Fähre nach Amrum. Mein Rad darf ich leider nicht mitnehmen. Ich muss mir auf Amrum eins leihen. Das habe ich noch nie gemacht – und werde ich wohl auch nie mehr tun. Das Leihrad ist gebaut wie ein Hollandrad. Ich bekomme keine Kraft auf die Pedale und quäle mich über die Amrumer Hügel. Lange vor Rückfahrt der Fähre vergeht mir die Lust am Fahren. Ich halte an der bekannten Vogelkoje, klage dem Wärter mein Leid und trinke mit ihm drei oder vier Flaschen Bier. Danach weiß ich alles über Deichbau früher und heute, über Lahnungen, Fähren, Watt, Ebbe und Flut.

Im Frühjahr 1990, Thüringer Wald. Den Taunus hatte ich ja mit meinem "Mountain-Bike" schon aufgemischt. Der Thüringer Wald war in dieser Hinsicht noch jungfräulich. Ich fahre mit dem Rad von Ruhla auf den Großen Inselsberg. Dort oben treffe ich einen Vater mit seinem etwa fünfjährigen Sohn. Beide bestaunen mein Rad, so etwas hatten sie noch nie gesehen. Vater: "Das ist aber ein tolles Fahrrad!" Darauf sofort der Sohn: "Die gibt's jetzt aber nicht mehr!" Sieh da: Er weiß schon genau, was "Bückware" bedeutet!

Stralsund-Devin. Ich nächtige mit meinem Rad in der Jugendherberge, fahre am nächsten Tag über Greifswald nach Anklam und abends mit dem Zug nach Stralsund zurück. Nach Devin muss ich in strömendem Regen fahren. Das dortige Kurhaus ist eigentlich geschlossen. Aber weil ich außen klatschnass und innen staubtrocken bin, öffnet man mir freundlicherweise die Küche und versorgt mich mit Bier. Spät abends in der Jugendherberge bemerke ich, dass ich einen Mitbewohner habe – jedenfalls sein Gepäck. Er selbst kommt nach Mitternacht, ebenfalls klatschnass und erschöpft. Er sei mit dem Fahrrad auf Hiddensee gewesen, habe die letzte Fähre nach Stralsund verpasst, musste die letzte Fähre nach Rügen nehmen und quer über die Insel fahren. Ich beschließe sofort, auch mal nach Hiddensee zu fahren!

Brandenburg, Eichwalde bei Berlin. Wer glaubt, er wisse, was Kopfsteinpflaster ist, aber noch nicht in Eichwalde war, der weiß nicht, was Kopfsteinpflaster ist! Hier kommen sogar gefederte Fahrräder an ihre Grenzen. Eine ältere Dame fährt mit einem Fahrrad (DDR-Modell) über eine Kreuzung. Das Rad ist schwer bepackt. An jeder Seite des Lenkers hängt zusätzlich eine große Plastiktüte. Die Dame stürzt und steht laut fluchend wieder auf: "Immer muss das ausgerechnet mir passieren!"

Berlin, Europaradweg R1, Fähre über die Spree. Ich fahre von Erkner nach Potsdam und muss mittags über eine Stunde auf die Fähre warten, weil ich nicht vom R1 abweichen will, aus Prinzip. Eine alte Frau setzt sich zu mir. Sie muss auch warten und erzählt mir haargenau, wo die letzten Kämpfe 1945 an der Spree stattgefunden haben und wie und womit man nach dem Krieg die Blindgänger aus der Spree gefischt hat. Unverhoffter Geschichtsunterricht vom Feinsten!

Ostseeradweg östlich von Lubmin, Fähre nach Usedom. Die Fähre fährt heute nicht, steht auf einem Schild. Man möge über Wolgast fahren. Und warum fährt die Fähre nicht? Weil der Kapitän in der vergangenen Nacht eine Nierenkolik erlitten habe und ins Krankenhaus habe gebracht werden müssen. Aber es gehe ihm schon wieder besser... steht jedenfalls auf dem Schild. Da fühlt sich der verhinderte Fahrgast doch sehr gut informiert und hat Verständnis!

Kamminke, Vorpommern, kurz vor Polen. Wir kommen gegen Abend mit unseren Rädern zu fünft an und wollen per Schiff nach Uckermünde. Jedoch: Das Schiff liegt im Hafen und ist kaputt. Was nun? Wo übernachten? Wir erhalten einen Tipp: Oben im Ort gebe es eine Feriensiedlung, dort sollten wir mal anfragen. Wir fahren hoch und nähern uns vorsichtig der Siedlung, weil davor ein großes Freigehege mit Dutzenden Hunden ist. Ein Mädchen hat uns erblickt, verschwindet aber wieder im Haus. Wir stehen eine Weile ratlos herum. Dann kommt das Mädchen wieder heraus, deutlich vornehmer herausgeputzt und sehr ansehnlich. Wir sind unsicher, ob wir hier übernachten können und rücken mit der Frage nicht recht heraus. Da sagt das Mädchen zu unserem Saarländer: "Nun nehmen Sie doch erst einmal Ihren Helm ab!" Da war schlagartig klar, dass wir bleiben konnten. Anschließend stieg im Garten eine feucht-fröhliche Grillparty mit weiteren Teilnehmern!

Springe/Deister. Ende einer Radtour-Etappe von Neuhaus/Solling. Ich übernachte beim Chinesen – nicht im Lokal, sondern eine Etage darüber im Fremdenzimmer. Die ganze Chinesenfamilie möchte wissen, wo ich herkomme. Der Chef fragt mich auf Deutsch. Ich sage: "Neuhaus im Solling". "Aah!" sagt der Chinese mit Fistelstimme, "Solingen!" Nein, sage ich und wiederhole deutlich: "Neuhaus im Solling!" "Aah! Solingen!" Ich resigniere: "Ja, Solingen." Die Chinesen lächeln freundlich.

Dank allen Menschen, die auf Radtouren immer wieder für Überraschungen sorgen! Sie sind das Salz in der Suppe. Mal sehen, was die Romantische Straße und die Tour Brandenburg in diesem Sommer zu bieten haben!

Günther Gräning