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Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt am Main

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Artikel dieser Ausgabe

Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt

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„Gebetsmühle Fahrrad“
Eine Soirée im Haus am Dom

Wolfgang Treitler
privat

„Rad zu fahren hat eine spirituelle Seite. Wer Fahrrad fährt, ist orientiert, hat eine Richtung, bleibt dem Boden verhaftet – und ist dennoch frei. Das Fahrrad kann sogar zu einer Gebetsmühle werden: die intensiv erlebte Gleichmäßigkeit hilft zur inneren Sammlung, die aus der Enge in die Weite führt.“ Diese Ankündigung einer Soirée mit Wolfgang Treitler am 16. Februar 2023 im Haus am Dom hatte mich einerseits an eigenes Erleben erinnert und andererseits meine Neugier geweckt. Also nichts wie hin.

Wolfgang Treitler ist seit seiner Jugend passionierter Radfahrer, der auf seinem selbst zusammengebauten Rennrad nicht nur an nationalen und internationalen Radrennen teilnimmt, sondern mit dem Tourenrad auch regelmäßig zur Arbeit fährt und mindestens zweimal die Woche, häufig mit seiner Tochter, einfach so durch die Landschaft radelt. Täglich kommt er so im Schnitt auf 40 Kilometer. Im Hauptberuf ist Treitler Theologieprofessor an der Universität Wien und nicht zuletzt diesem Umstand dürfte sein Wortschatz zu verdanken sein, der es ihm erlaubt, Erfahrungen beim Radeln, die er mit vielen Radfahrenden teilt, auf den Begriff zu bringen. Nicht allen stehen die Worte zur Verfügung, mit denen sich diese Erfahrungen ausdrücken lassen. Im Gespräch mit Studienleiter Johannes Lorenz spricht Treitler von Spiritualität, von Meditation und – ja auch von Gebet.

Radfahren ist, da werden viele zustimmen, mehr als nur rein körperliche Bewegung. Von außen mag die regelmäßige Bewegung, das Auf und Ab der Pedale, der Rhythmus des Atmens, der Wind in den Ohren ziemlich langweilig erscheinen. Aber diese Monotonie kann eine innere meditative Bewegung hervorbringen, die nicht selten Zeit und Raum vergessen lässt. Dann kann man sich nicht mehr an Orte und Wegmarken erinnern, die man gerade eben erst passiert hat. Selbst zu zweit oder in Gruppen ist es möglich, diese Erfahrung zu machen. Nämlich dann, wenn die Mitfahrenden es sich psychisch leisten können, nicht andauernd zu quatschen, sondern dem Schweigen einen Wert abzugewinnen. Treitler kennt das insbesondere von den Radtouren mit seiner Tochter. Beide erfahren dabei im Schweigen ­Gemeinschaft in „geteilter Einsamkeit“, aus der sie erfrischt und belebt nach Hause zurückkehren. So erwirbt man auf dem Rad die „Tugend des mit sich allein Seins“. Treitler erinnert an den berühmten Spruch von Blaise Pascal: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“

Meditativ Rad zu fahren kann man sich nicht vornehmen. Es handelt sich nicht um ein Trainingspensum, das man sich vornehmen und abarbeiten kann. Wer das versucht, hat schon verloren. Meditatives Erleben auf dem Rad stellt sich ein, ohne beabsichtigt zu sein. Nur wer sich von Zwecken unabhängig machen kann, erlebt die „Freiheit von sich selbst“, das Sich-Selbst-Vergessen, das zugleich mit dem Bewusstsein verbunden ist, dass es Wichtigeres gibt als Leistung und Selbstbehauptung. So kann das zweckfreie Radfahren zum Gebet werden. Beten, so Treitler, sei nicht die Auflistung von Forderungen und Wünschen, die der liebe Gott bitte erfüllen möge, sondern ein ­Lebensgefühl, hervorgerufen durch das „Eintauchen in die Atmosphäre eines abgründigen Geheimnisses“, welches in der Stille und der Selbstvergessenheit begegnet. Durch Radfahren ist Treitler – ganz entgegen der katholisch-theologischen Tradition – zum „Anti-Platoniker“ geworden. Er vermag den Körper nicht mehr als Gefängnis des Geistes zu begreifen, sondern erfährt ihn vielmehr als Medium der Befreiung des Geistes: „Ich bin mein Körper.“

Wichtigeres als Leis­tung und Selbstbehauptung

Diese spirituelle Haltung ist freilich nicht das, was Treitler einnimmt, wenn er Rennen fährt. Dann geht es um Leistung, um das Ausreizen der eigenen körperlichen Grenzen, das geschickte Austricksen des Gegners und um eine „Schulung des Willens“, der auch durch größte Anstrengung nicht zu brechen ist und nicht nachgibt, bis der Sieg eingefahren ist. Doch auch hier wirkt die spirituelle Erfahrung im Hintergrund. Sie erlaubt es, die Niederlage nicht allzu ernst zu nehmen und gelassen hinzunehmen, wenn ein Rennen misslingt. Spiritualität vermag insoweit von jenem ­„Sektierertum des Sports“ zu bewahren, das darin besteht, sich mit dem Sport so sehr zu identifizieren, dass die Niederlage als Verlust oder existenzielle Gefahr für das eigene Selbst erlebt wird. Treitler kennt viele unter seinen Radrennkollegen, denen es so ­ergeht. Der wahnhafte Kampf um ewige Jugend macht sie zu ­geschlagenen Existenzen, die das Loslassen mit Selbstvernichtung verwechseln.

In seinem Arbeitszimmer hat Treidler sein selbstgebautes Lieblingsfahrrad an der Wand hängen. Wenn es bei der Arbeit nicht ­richtig rund läuft, so gesteht er, verschafft ihm das Aufblicken zu seinem Fahrrad Kraft und Trost. Ob an seiner Wand auch ein Kreuz hängt, ließ Treitler unerwähnt.

Paul Tiedemann

Das Gespräch mit Wolfgang Treitler im Haus am Dom findet man auf YouTube unter:
adfc-hessen.de/=E3U